Wer bin ich? Selbstfindung heißt: Das wahre Selbst erkennen.

9 min Lesezeit | veröffentlicht am: 20.08.2024

Schon von Kindesbeinen an entwickeln wir Ideen und Vorstellungen davon, wer wir sind. Wir hören es von unseren Eltern und anderen Autoritäten und identifizieren uns mit bestimmten Eigenschaften, die durch uns kommen, mit unseren Abneigungen und Vorlieben, mit unserem Namen und unserem Körper. Das verleiht uns eine unsichtbare Kraft, in der wir uns bedeutsam und vor allen Unwegsamkeiten des Lebens sicher fühlen: Das bin ich! Wir agieren so, wie wir es gewohnt sind und die Menschen in unserem Umfeld reagieren in einer ebenso gewohnten Weise auf uns. Wenn ein uns nahestehender Mensch sich plötzlich nicht mehr auf die gewohnte Art verhält, sind wir irritiert, verärgert oder verängstigt. Was ist, wenn wir uns selbst eines Tages nicht mehr so sicher fühlen in dem, was wir glaubten zu sein?

Vielleicht haben wir das verloren, was uns bisher ein Gefühl von Sinnhaftigkeit gegeben hat, unsere Wünsche und Vorstellungen vom Leben haben sich nicht erfüllt oder das Leben hat unsere Pläne gekreuzt und wir stehen mit leeren Händen da. Das kann tiefe Gefühle von Trauer und Verzweiflung, bis hin zur Resignation und Depression in uns auslösen und wir hinterfragen zum ersten Mal tiefgreifend unsere bisherige Weltanschauung. Möglicherweise haben wir aber auch schon unser Leben lang ein latentes Gefühl von Verunsicherung oder Unzufriedenheit in uns wahrgenommen und uns fällt auf, dass wir auf einer Suche sind: Wir sehnen uns danach endlich bei uns anzukommen und der Mensch zu sein, der wir wirklich sind. Wir sehnen uns nach innerem Frieden. Vielleicht bemerken wir zum ersten Mal die Enge, die mit der Identifikation als ein bestimmter „Jemand“ einhergeht und sind neugierig auf das, was jenseits davon liegt. Was auch immer dazu geführt hat, dass wir uns selbst in Frage stellen, wir sind an einem essentiellen Wendepunkt angelangt, der uns von äußeren Betrachtungen weg, hin zu einer inneren Betrachtung geführt hat: Wer bin ich wirklich?

Selbstbilder verzerren den Blick auf das Selbst

Die Identifikation mit unseren Vorstellungen davon, wer und wie wir sind, nennt man Selbstbilder. Sie beruhen auf zum Teil tief im Unbewussten verborgenen Glaubenssätzen, die sich als Reaktion auf bestimmte Erfahrungen in unserer Kindheit gebildet haben. Wir tragen aktiv zum Erhalt und zur Stärkung der Selbstbilder bei, indem wir diese Ideen von uns selbst immer wieder kommunizieren und durch unser Verhalten bestätigen. So behindern wir fast permanent die unvoreingenommene, frische Erfahrung dieses Momentes. Die Erkenntnis, dass wir das, was wir glaubten zu sein, gar nicht sind, kann schmerzhaft und tiefgreifend erschütternd sein. Gleichzeitig ist sie eine Chance, die den Beginn eines einmaligen Abenteuers in die Tiefen unserer Seele bedeuten kann. Einen umfassenden Einblick in die Funktionsweise sowie die Möglichkeiten der Erforschung der kindlichen Strukturen, die den Blick auf unser wahres Selbst verzerren, bietet Diplom-Psychologin Ulrike Porep in ihrem Buch Schritte ins erwachsene Menschsein – Die Integration des inneren Kindes. Wenn wir mehr und mehr beginnen diese kindlichen Glaubenssätze in uns zu sehen und ihnen die Erlaubnis geben in unser Bewusstsein integriert zu werden, wachsen wir und haben die Möglichkeit wahrhaft ERwachsene Entscheidungen zu treffen. Somit folgen wir unserem Herzenswunsch, anstatt einer durch alte Verletzungen und kindlichen Eigenwillen geprägten, mechanischen Verhaltensweise.

 Der Glaube, dass wir unsere Kindlichkeit bekämpfen und abschaffen müssten, um zu dem zu gelangen, was wir wirklich sind, führt dazu, dass wir alles, was nicht in unser Bild von „erwachsen“ und „zufrieden“ passt, ins Unbewusste verdrängen und damit zwangsläufig einen Schatten erzeugen, der auf dem Weg zu uns selbst ein Hindernis wird. Die Verdrängung innerer Anteile ins Unbewusste ist ein Vorgang der Abtrennung. Wer aber zu sich selbst zurückfinden möchte, der muss diese Trennung aufheben.

Schritte ins erwachsene Menschsein
Ulrike Porep

Sie erinnert humorvoll und unermüdlich an das wohlwollende Interesse eines Menschen an sich selbst, welches das Gehen des Weges erst möglich macht und räumt gründlich auf mit der Idee, sich ausschließlich den höchsten Lehren zuwenden und so den Reifungsweg zum erwachsenen Menschsein überspringen zu können.

Die Aufhebung der Abtrennung unerwünschter Anteile nennt sich Integration. Wenn ein Mensch also von einer integralen Betrachtung spricht, dann meint er eine ganzheitliche Sichtweise, die alle Anteile, ob bewusst oder unbewusst, einbezieht.

Der Unterschied zwischen wahrem Kern und falscher Persönlichkeit

Die Frage „Wer bin ich?“ ist eine Frage nach unserem wahren Kern, mit der wir in diese Welt hineingeboren wurden und der sich, im besten Fall, im Laufe unseres Lebens entfalten darf. Dem gegenüber stehen unsere Vorstellungen darüber, wer ich bin und starre Selbstbilder, die eine falsche Persönlichkeit entstehen lassen. Der Duden führt als Herkunft des Wortes Person (Wortstamm von Persönlichkeit) das lateinische Wort persona an, das als Maske oder Rolle ins Deutsche übersetzt wird. In seinem Buch Intelligenz des Erwachens – Die spirituelle Neugeburt des Menschen, definiert der Weisheitslehrer OM C. Parkin die Persönlichkeit als „Maske Gottes“, „eine natürliche, menschliche Manifestation der Quelle selbst“ und liefert damit einen ersten Hinweis auf unser wahres Selbst, also darauf, was sich hinter unseren Selbstbildern verbirgt: eine Facette der Quelle, des Einen. Was aber ist dieses Eine? In der Philosophie des advaita vedanta ist alles untrennbar miteinander verbunden und damit Eins und nicht Zwei (der Begriff advaita stammt aus der altindischen Sprache Sanskrit und bedeutet Nicht-Zweiheit; Vertreter dieser philosophischen Strömung sind u.a. OM C. Parkin, Sri Ramana Maharshi, Sri Poonja (Papaji) und Gangaji). Wenn jedoch alles untrennbar Eins ist, dann muss es sich bei der Idee, ein abgetrenntes Wesen zu sein, die wir immer wieder durch die Verdrängung von unerwünschten Anteilen ins Unbewusste oder durch die Stärkung unserer Selbstbilder befeuern, zwangsläufig um eine Illusion handeln. Diese Illusion erzeugt viel Leiden in uns, weil sie uns an dem Erkennen der Wahrheit über uns selbst hindert und damit letztendlich auch daran, das zu leben, was wir wirklich sind.

Die Persönlichkeit formt sich als eine natürliche, menschliche Manifestation der Quelle selbst, während der denkende Geist sich aus den geistigen Archiven formt, die in der Zeitgeschichte hinterlassen worden sind. (OM C. Parkin)

Wenn wir genau in uns hineinfühlen, dann können wir in unserer Enttäuschung von uns selbst und in der Verzweiflung über den Sinn unseres Daseins, diesen Trennungsschmerz wahrnehmen. Wer also herausfinden möchte, wer er wirklich ist, der muss der Illusion seiner falschen Persönlichkeit auf den Grund gehen. Und dazu gilt es zunächst einmal den Urheber der Illusion zu erkennen. OM C. Parkin bezeichnet diesen als denkenden Geist und definiert ihn als eine „Vielzahl weiterer Masken, welche die natürliche Maske, das natürliche Gesicht, überlagern und verschleiern.“ Man kann dafür auch den Begriff des Nicht-Selbst verwenden. Der denkende Geist ist der Ort, an dem wir unsere Selbstbilder versammeln und an dem somit unsere Sicht auf die Realität, auf das Eine und damit auf uns selbst manipuliert wird. Die unterschiedlichen Strategien des denkenden Geistes, die Illusion zu erzeugen und aufrecht zu erhalten, können in dem spirituellen Modell des Enneagramms abgebildet werden (s. dazu auch den ausführlichen Artikel). Begeben wir uns auf einen Weg der Erforschung der Illusion, dringen wir tiefer und tiefer vor zu dem, was hinter der Illusion liegt, und damit zu unserer wahren Persönlichkeit.

Wer bin ich? - Einband Buch von Ramana Maharshi
Nan Yar? – Wer bin ich?
von Sri Ramana Maharshi

Dieses Werk gehört zu den beiden einzigen Prosastücken unter Ramana Maharshis Mitteilungen in eigenen Worten. Sie vertreten klar die zentrale Lehre, dass Selbsterforschung der direkte Weg zur Befreiung ist. Die besondere Art und Weise, in der die Erforschung durchgeführt werden sollte, wird in „Nan Yar?“ einleuchtend dargelegt.

Selbsterforschung führt zu Selbsterkenntnis

Zur Unterscheidung des wahren Kerns in uns von der Illusion, können wir die Praxis der Selbsterforschung anwenden. Sie ist ein Prozess tiefer Selbstreflexion, der im hohen Maße Selbstehrlichkeit und Kontinuität erfordert und gleichzeitig sehr einfach und für jeden Menschen zu jeder Zeit anwendbar ist. Wir brauchen dafür keine Vorkenntnisse oder spezielle innere Erfahrungen: Die Selbsterforschung entfaltet Erkenntnis von dem Ort aus, an dem wir innerlich stehen.

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So wird sie zu einem genialen Instrument auf dem Weg hin zu uns selbst. Sie führt uns durch die uns bewussten und unbewussten Denk- und Verhaltensmuster, Selbstbilder und Glaubenssätze hindurch, bis wir das erkennen können, was dahinter liegt: Wir sehen uns selbst. Dies ist ein Moment der Selbsterkenntnis. Durch Selbsterkenntnis werden wir vom Schleier der Illusion befreit und können das wahre Selbst verwirklichen.

Falls dich das Thema Selbstverwirklichung interessiert: Selbstverwirklichung – Was will ich wirklich?

Es gibt verschiedene Formen der Selbsterforschung. Beispielsweise können wir uns als Forschende mit brennenden Fragestellungen auseinandersetzen, die sich auf Verhaltensmuster oder Reaktionen beziehen, die uns in unserem Alltag immer wieder begegnen und von denen wir merken, dass sie uns einschränken und inneres Leiden verursachen. Das könnten sein: Wogegen kämpfe ich? Oder: Was will ich vermeiden? OM C. Parkin antwortet in der Videoreihe Essenzen innerer Praxis Vol. 5 umfassend und tiefgreifend auf die Frage, was Selbsterforschung ist, und differenziert dabei auch zwischen der kleinen und der großen Selbsterforschung: Während die kleine Selbsterforschung das Nicht-Selbst beleuchtet und sich mit dem befasst, was der Selbsterkenntnis im Wege steht, stellt die große Selbsterforschung die direkte Frage: Wer bin ich? Sie wurde durch den bekanntesten indischen Weisheitslehrer des 20. Jahrhunderts Sri Ramana Maharshi gelehrt: Bei dieser Form, wird der denkende Geist mit der immer wiederkehrenden Fragestellung „Wer bin ich?“ konfrontiert. Dabei wird zutiefst in Frage gestellt, was wir bisher für „Ich“ gehalten haben, das heißt: unsere Selbstbilder werden entlarvt und es kann sich das zeigen, was dahinter liegt. Diese Methode bleibt also nicht an einem bestimmten Punkt stehen, um sich dort speziellen Fragestellungen zu widmen, sondern führt tiefer und tiefer hinter die Illusion von uns selbst, in unser wahres Selbst hinein. Was sich dann offenbart, ist ein offenes Geheimnis und kann nur durch eigenes Erleben in Erfahrung gebracht werden. Die Einfachheit und Brillanz dieser Methode ist verblüffend. Das Buch Nan Yar? Wer bin ich? Who am I? beinhaltet die Essenz Sri Ramana Maharshis Lehre.

Das Eingeständnis, dass wir offenbar nicht wissen wer wir sind, erfordert Demut. Dies ist eine Grundvoraussetzung für die Selbsterforschung.

Wer bin ich? - Einband Buch von Ramana Maharshi
Nan Yar? – Wer bin ich?
von Sri Ramana Maharshi

Dieses Werk gehört zu den beiden einzigen Prosastücken unter Ramana Maharshis Mitteilungen in eigenen Worten. Sie vertreten klar die zentrale Lehre, dass Selbsterforschung der direkte Weg zur Befreiung ist. Die besondere Art und Weise, in der die Erforschung durchgeführt werden sollte, wird in „Nan Yar?“ einleuchtend dargelegt.

Der Weg zum wahren Kern

Wenn wir uns fragen, wer wir sind, dann kann der erste Schritt sein: anzuerkennen, dass wir es offenbar nicht wissen. Dieses Eingeständnis erfordert Demut, ist möglicherweise unbequem und von einem inneren Aufruhr begleitet. Vielleicht ist es aber auch erleichternd und eröffnet ein bisher unbekanntes inneres Empfinden. Das Eingeständnis nicht zu wissen, die Bereitschaft eine neue Erfahrung zu machen sowie eine freundliche Haltung uns selbst gegenüber sind Grundvoraussetzungen für die Selbsterforschung und die daraus resultierende Selbsterkenntnis. Auf dem Weg zum wahren Selbst durchqueren wir unterschiedlichste innere Landschaften. Mal fällt uns die Selbsterforschung leicht und wir fließen in einem Erkenntnisprozess der Befreiung entgegen, mal stehen wir vor einem scheinbar riesigen Berg unbewusster Anteile und wissen nicht, wo wir überhaupt anfangen sollen. Vielleicht hemmt uns eine Angst oder wir wollen schlichtweg nicht das loslassen, um das wir uns so lange Zeit unseres Lebens bemüht haben. Hat die Frage nach unserem wahren Selbst uns jedoch erst einmal erreicht, wird sie uns unser Leben lang begleiten; mal drängend, sodass wir bereit sind uns der inneren Arbeit zu stellen, die zur Beantwortung der Frage „Wer bin ich?“ nötig ist. Dann flüsternd im Hintergrund unseres täglichen Lebens, sodass sie uns ein kontinuierlicher Wegbegleiter ist und uns immer wieder auf das Wesentliche zurückführt. Und egal ob zielgerichteter Galopp oder langsames Mäandern: Den inneren Weg gehen bedeutet, dem wahren Kern näherkommen und dort beginnen zu gehen, wo ich stehe.

Video: Darshan mit OM C. Parkin – Annäherung an die Frage: Wer bin Ich

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Im Text genannte Literatur/Medien:

OM C. Parkin: Auge in Auge mit dir selbst

Gangaji: Freiheit und Entschlossenheit – Der schmale Grat der Hingabe

Daniela Jodorf: Saraswati – Der Fluss des Lebens

Saritha M. Wimmer: Überfließende Schlichtheit. Vom Tropfen zur Quelle

OM C. Parkin: Intelligenz des Erwachens – Die spirituelle Neugeburt des Menschen, Kap. 1 Ein Geist – Dialog, S. 70, 3. Auflage, 2019, advaitaMedia.