Selbstverwirklichung – Was will ich wirklich?

10 min Lesezeit | veröffentlicht am: 20.08.2024

Das Privileg des Lebens besteht darin, der zu werden, der man wirklich ist. (C.G. Jung)

Immer mehr Menschen suchen nach Möglichkeiten, sich selbst zu verwirklichen, um ein selbstbestimmtes, authentisches und erfülltes Leben zu führen. Doch was ist damit gemeint, sich selbst zu verwirklichen? Was meint C.G. Jung, wenn er sagt, dass das Privileg des Lebens darin besteht, “der zu werden, der man wirklich ist”?  Wer bist du wirklich? Was ist Selbstverwirklichung? Was ist der Unterschied zwischen persönlicher Selbstverwirklichung und Selbstverwirklichung aus spiritueller Sicht?

Diese und weitere Fragen zum Thema Selbstverwirklichung werden in diesem Artikel behandelt und sollen dir Inspiration und Denkanstöße geben.

Vielleicht interessiert dich auch unser Artikel zum Thema Inneren Frieden finden.

Die Höhle verlassen und die Welt sehen

Was ist Selbstverwirklichung?

Im modernen Sprachgebrauch bedeutet Selbstverwirklichung herauszufinden, was einem wichtig ist im Leben, was einen glücklich macht, welche Fähigkeiten man hat und welche Beziehungen einen bereichern. Oft merkt man dabei, dass diese Ziele und Pläne nicht unbedingt zu den Rollen passen, die man in der Gesellschaft übernommen hat. So beschreibt die Selbstverwirklichung auf persönlicher Ebene einen Prozess der Individuation, in dem du dir darüber klar wirst, was deine Werte sind und wie du diese in die Welt bringen kannst.

In der Individuation ist es ein wichtiger Schritt, sich von den übernommenen Glaubenssätzen der Gesellschaft wie auch der Eltern und anderer Quellen frei zu machen und zumindest zu überprüfen, ob sie dir dienlich sind auf deinem Weg der Selbstfindung.

Der Prozess der Individuation bedeutet außerdem, sich als einzigartiges Individuum zu entfalten. Es ist wichtig, sich selbst mit all seinen Stärken und Schwächen anzunehmen, da es vor allem unsere Schwachstellen sind, an denen wir lernen und wachsen. Das Akzeptieren von sich selbst, mit allen Möglichkeiten und Herausforderungen, ist eine wichtige Eigenschaft, die im Prozess der Individuation entwickelt werden kann.

C.G. Jung beschreibt diesen Prozess der „Individuation“ 1928 erstmals auch als „Verselbstung“ oder als „Selbstverwirklichung“. Ebenso wollen wir den Begriff Selbstverwirklichung aus spiritueller Sicht betrachten. Auf den Punkt gebracht bedeutet dies, sein wahres Selbst zu erkennen oder zu realisieren. Damit geht natürlich die Frage einher, was dein wahres Selbst denn wirklich ist?

Selbstverwirklichung nach der Maslowschen Bedürfnispyramide und das (oft) vergessene Element

In der Psychologie hat Abraham Maslow neben C.G. Jung den Begriff der Selbstverwirklichung bekannt und durch seine Bedürfnispyramide populär gemacht, indem er ihn zuerst ganz oben in der von ihm postulierten Hierarchie der Bedürfnisse platzierte.

Doch Maslow fügte vor seinem Tod im Jahr 1970 noch weitere Dimensionen (z.B. die Transzendenz) zu seiner Bedürfnispyramide hinzu, was oft übersehen wird. Diese Ergänzung hat er in einem Buch veröffentlicht und, obwohl das Erscheinungsdatum bekannt ist, wird die Pyramide in der Literatur meist noch in der älteren Version dargestellt – also mit dem Bedürfnis der Selbstverwirklichung an der Spitze, nicht mit dem der Transzendenz.

Bevor ein Aufstieg in höhere Ebenen der Bedürfnispyramide möglich wird, braucht es einen Abstieg und Erfüllung der niederen Bedürfnissen.

Der Begriff Transzendenz, der sich ableitet vom lat. Verb transcendere, was u.a. „überschreiten“ bedeutet, beschreibt den Zustand, in dem ein Mensch die Grenzen seiner bekannten Welt überschreitet und das Unpersönliche bzw. Über-Persönliche in sich berührt. Während wir Selbstverwirklichung zuerst eher persönlich verstehen, geht es bei Selbsttranszendenz also darum, einen Seinszustand in sich zu finden, der über die Ich-hafte Entwicklung hinausgeht.

In seiner Bedürfnispyramide beschreibt Maslow verschiedene Ebenen von Bedürfnissen, die in einer Hierarchie aufgeführt sind und sich von rudimentären, niederen Bedürfnissen immer weiter entwickeln in einer höhere Bedürfnis-Hierarchie. Er sagt, dass jeweils das untere Bedürfnis erfüllt sein muss, um in höhere Ebenen aufsteigen zu können. Die Auflistung dieser Bedürfnisse ist: physiologische Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse, Individualbedürfnisse, kognitive Bedürfnisse, ästhetische Bedürfnisse, Selbstverwirklichung und Transzendenz.

Da es in diesem Artikel um eine nähere Betrachtung der beiden höchsten Ebenen von Selbstverwirklichung und Transzendenz geht, werden die unteren Ebenen nur benannt und nicht weiter ausgeführt.

Die Geburt des Löwen von OM C. Parkin - Cover
Die Geburt des Löwen
von OM C. Parkin

OM C. Parkin konfrontiert den Leser unmittelbar mit der wesentlichen Frage: Wer ist jenes ‚Ich‘, auf das wir das Glück und Unglück unseres Lebens, unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beziehen? 
Mit seinem unbestechlich klaren Blick auf die Leidensstrukturen im Menschen wie auch auf das, was davon unberührt bleibt, durchdringt OM gemeinsam mit den Fragenden diese geschlossene und damit abgetrennte Welt der Identifikation mit einem Ich.

Selbstverwirklichung & Selbstentfaltung – Wie entfalte ich mein Potential?

Betrachten wir nun – entsprechend der Maslowschen Bedürfnispyramide, das siebte Element – die Selbstverwirklichung. Der Begriff der Selbstverwirklichung bedeutet in unserem gewöhnlichen Verständnis einen Prozess, in dem wir die Anpassung an innere und äußere Normen hinterfragen und herausfinden, was wir im Leben ausdrücken und erreichen wollen. Dieser Akt der Anpassung entsteht aus unserem kindlichen Wunsch, zu überleben, dazu zu gehören, geliebt zu werden. Doch wer sich als Mensch entfalten möchte, braucht die Bereitschaft, über diese erste und mächtige Motivation hinaus zu gehen und damit auch der Angst zu begegnen, alleine da zu stehen.

Für jeden von uns bedeutet Selbstverwirklichung möglicherweise etwas anderes und sie zeigt sich auf unterschiedliche Weise. Vielleicht denken wir zuerst an eine berufliche Veränderung, wenn es um Selbstverwirklichung geht, und können uns aktiv die Fragen stellen:

  • Was macht mir Freude und was kann ich gut?
  • Was passt zu meiner Persönlichkeit?
  • Wem kann ich mit meinen Erfahrungen und meinem Wissen helfen?
  • Was erfüllt mich mit Sinn und Zufriedenheit?

Es ist wesentlich, Selbstverwirklichung nicht nur auf beruflicher Ebener zu sehen, sondern umfassender und bezogen auf unsere ganze Lebensführung. Wie möchte ich Beziehungen leben? Wie möchte ich überhaupt mein Leben gestalten? Wohin möchte ich meine Aufmerksamkeit und Lebenskraft geben? Diese Fragen befreien uns von automatischen Entscheidungen, die wir treffen aus unbewusster Konditionierung und Prägung. Grundsätzlich können wir Selbstverwirklichung auf dieser Ebene als einen Prozess der Selbstentfaltung betrachten.

Falls dich die fundamentalen Antriebskräfte im Geist interessieren, lies auch die Artikel zu den drei fixierten Grundkräften im Enneagramm: Zorn, Angst und unerfüllte Liebe

Da es hier immer noch um unsere egoistischen Bedürfnisse geht, was nichts anderes heißt, als die Welt unseres Ichs zu erweitern, zu verschönern und zu kräftigen, wirken hier die – oft unbewussten – Motive des Strebens, der Selbstverbesserung, der ewigen Suche, ohne zu finden. Es treiben uns die Fragen an: Wohin will ich mich entwickeln? Was will ich erreichen?

Die zentrale Frage jedoch „Wer bin ich?“ kann erst auftauchen, wenn wir uns für die Ebene der Transzendenz zu interessieren beginnen.

Das Wesentliche.
Nan Yar? Wer bin ich?
von Sri Ramana Maharshi

Dieses Werk gehört zu den beiden einzigen Prosastücken unter Ramana Maharshis Mitteilungen in eigenen Worten. Sie vertreten klar die zentrale Lehre, dass Selbsterforschung der direkte Weg zur Befreiung ist. Die besondere Art und Weise, in der die Erforschung durchgeführt werden sollte, wird in „Nan Yar?“ einleuchtend dargelegt.

Transzendenz – Selbstverwirklichung aus spiritueller Sicht.

Die Transzendenz birgt ein tieferes, umfassenderes Potenzial der Selbstverwirklichung. Graf Dürckheim, ein Zen-Meister des 20. Jahrhunderts, hat dazu folgende Aussage getroffen: „Spiritualität ist die Transparenz zum immanent Transzendenten.“ Das ist erstmal nicht einfach zu verstehen und wir werden uns diese Aussage genauer anschauen:

Sie bezieht sich auf die Idee, dass Spiritualität eine Verbindung zum Transzendenten herstellt, das in uns selbst (immanent) und jenseits unserer bekannten Identität existiert (transzendent). Es geht darum, eine tiefere Ebene des Bewusstseins oder der Existenz zu erreichen, die über unseren Überlebenstrieb und Lustgewinn hinausgeht und eine Verbindung zur spirituellen Realität herstellt.

Selbstverwirklichung aus spiritueller Sicht ist die Realisation des wahren „Selbst“. Unser Körper und unser Verstand mit seinen Fähigkeiten, Vorlieben, Abneigungen sowie unsere gelernte Persönlichkeit können nicht die letzte Wahrheit über uns sein, denn all das ist vergänglich. In seiner wahren Natur ist der Mensch reines Bewusstsein, auch ausgedrückt durch die Dreiheit: Sein, Bewusstsein und Glückseligkeit. So weit wir uns auch persönlich entwickeln und entfalten, wir stoßen doch früher oder später auf die Grenzen unserer Überzeugungen und Identifikationen, was Leiden zur Folge hat.

Die Geburt des Löwen
von OM C. Parkin

OM C. Parkin konfrontiert den Leser unmittelbar mit der wesentlichen Frage: Wer ist jenes ‚Ich‘, auf das wir das Glück und Unglück unseres Lebens, unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beziehen? 
Mit seinem unbestechlich klaren Blick auf die Leidensstrukturen im Menschen wie auch auf das, was davon unberührt bleibt, durchdringt OM gemeinsam mit den Fragenden diese geschlossene und damit abgetrennte Welt der Identifikation mit einem Ich.

Unser Leiden kann durch persönliche Selbstentfaltung nicht beendet werden, denn die Freiheit, die wir suchen, finden wir nicht in unbegrenzter Selbstentwicklung, sondern nur in der Tiefe unseres Selbst. Selbstverwirklichung im spirituellen Sinne ist also ein anderer Begriff für Selbst-Erkenntnis oder Selbst-Realisation.

Im Folgenden ein interessantes Zitat des Mystikers & Weisheitslehrers OM C. Parkin, das über das Spannungsfeld der persönlichen Selbstverwirklichung (hier Entwicklung genannt) und der Selbstverwirklichung aus spiritueller Sicht (hier Realisation des Selbst genannt) aufklärt:

Die Realisation des Selbst ist das Ende von Werden. Etwas entwickelt sich, aber nicht DU. DU entwickelst dich nicht. Der Versuch, vollkommen zu werden, ist diese tragische Identifikation mit der Entwicklung. Wenn du erkennst, dass DU dich nicht entwickelst, dass DU DAS BIST, was du warst, bevor der Körper geboren wurde und DAS bist, was DU immer sein wirst, nämlich das SELBST; Sein – Bewusstsein – Glückseligkeit, dann findet Entwicklung in DIR statt, so wie der Körper und die Menschen in DIR stattfinden und alles, was erscheint, in DIR stattfindet, aber es berührt dich nicht.
OM C. Parkin, die Geburt des Löwen, S. 292

Ein Mensch, der sein wahres Selbst realisiert hat oder auf dem Weg dahin ist, entwickelt sich auf relativer Ebene noch immer weiter. Doch das, was sein wahres Selbst ausmacht, oder das, was er wirklich ist, bleibt von der Entwicklung unberührt. Das ist der Ursprung allen Seins, die Freiheit der Seele, auf die die großen Lehrer wie Buddha, Jesus Christus und andere schon vor langer Zeit hingewiesen haben.

Wenn du erkennst, dass DU dich nicht entwickelst, dass DU DAS BIST, was du warst bevor der Körper geboren wurde und DAS bist, was DU immer sein wirst, nämlich das SELBST […] dann findet Entwicklung in DIR statt. (OM C. Parkin)

Die Frage: Was ist es, was du wirklich willst?

Um aus innerer Sicht eine Antwort auf diese Frage zu finden, müssen wir in eine große Tiefe vorstoßen. Für viele Menschen reicht es vielleicht erst einmal aus, sich überhaupt an den eigenen Willen zu erinnern und sich zu fragen, was ich im Leben will.

Die Frage, was ich wirklich will, führt in eine tiefere Ebene unseres Sehnens, unserer Motivation für dieses Leben. Es gibt viele Wünsche und Antriebe, die uns in verschiedene Richtungen führen und sich manchmal auch widersprechen. Doch es gibt nur einen „Wurzelwunsch“.  Wenn dieser tiefe Wunsch in uns entflammt ist, werden wir persönliche Ziele der Selbstverwirklichung in Frage stellen und sogar aufgeben, da sich unsere inneren Werte natürlicherweise neu ausrichten. Die Selbstverwirklichung aus spiritueller Sicht wird von vielen Weisen und Lehrern als der wahre Sinn menschlichen Daseins bezeichnet. Das ist es, was wir in der Tiefe wirklich wollen.

Im folgenden Video spricht OM C. Parkin ausführlich über die Frage: „Was ist es, was du wirklich willst?“ und wie du damit arbeiten kannst:

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Wenn du dein Wissen über die spirituelle Selbstverwirklichung vertiefen möchtest, empfehlen wir dir dich mit den folgenden Büchern zu beschäftigen:

Das Erwachen des schlafenden Elefanten von OM C. Parkin

Intelligenz des Erwachens von OM C. Parkin

Überfließende Schlichtheit – Vom Tropfen zur Quelle von Saritha Wimmer

Quellen

Maslow, Abraham H.: Farther Reaches of Human Nature, New York 1971

Jung, C.G.: Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten (1928). In: Gesammelte Werke, Bd. 7. Olten/Freiburg 1974.

Jung, C.G.: Zitat entnommen aus Insiderooms (Stand 27. Juni, 2024).

Parkin, OM C.: Die Geburt des Löwen. advaitaMedia 2018, Erstausgabe erschienen 1998 im Lüchow Verlag

Dürckheim, Graf.: Zitat entnommen aus Yoga-Vidya Wiki (Stand 1. Juli, 2024)