Das spirituelle Enneagramm:
Herkunft und Bedeutung des Enneagramms
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Die Herkunft der alten Kosmologie des Enneagramms ist nicht vollständig geklärt, was vor allem daran liegt, dass dieses Wissen vorwiegend mündlich weitergegeben wurde. Es gibt Hinweise darauf, dass schon die Wüstenväter – frühchristliche Mönche, die seit dem 3. Jahrhundert als Eremiten in den Wüsten Ägyptens und Syriens lebten – Zugang zum Enneagramm hatten. Andere Hinweise führen zu den Sufis und auf jeden Fall immer wieder ins christliche Umfeld. Für westliche Menschen zugänglich wurde Anfang des letzten Jahrhunderts das Enneagramm durch den armenischen Weisheitslehrer Gurdjieff (1866 – 1949), dessen Lehre des Vierten Weges besonders durch seinen Schüler P.D. Ouspensky bekannt wurde, so auch das Wissen um das Enneagramm. Der bolivianische Philosoph Oscar Ichazo sowie der chilenische Psychiater Claudia Naranjo trugen in den 60er Jahren und später zur Popularität des Enneagramms bei, zumal Naranjo – in den USA arbeitend – dieses Wissen mit seinen psychiatrischen Studien verband und für westliche Menschen nachvollziehbar machte.
Die Bedeutung des Enneagramms liegt in seiner unbestechlichen Beschreibung von neun geistigen Welten, auf die sich ein Mensch unbewusst fixiert hat. Es besagt, dass der Ich-Geist jedes Menschen auf dieser Erde – außer vollkommen erwachten, aus ihrer Fixierung gelösten Menschen – in den neun Charakterfixierungen wiedergefunden und beschrieben werden kann. Ob ein Mensch das selber so sehen möchte, ist dabei gleichgültig. Es handelt sich um ein kosmologisches, unpersönliches Wissen, was durch Selbsterforschung erlangt werden kann.
Die Grundkräfte im Enneagramm
Das Symbol des Enneagramms beruht auf dem Kreis, der die Unendlichkeit des Seins darstellt, und der kosmologischen Dreiheit der Grundkräfte (in der Grafik sichtbar als das sogenannte innere Dreieck), aus dem sich dann die sechs weiteren Punkte mit ihren Verbindungen erschließen. Die erschaffende, die bewahrende und die zerstörende Kraft sind unpersönlicher Natur und bilden einen Kreislauf von Geburt, Lebensspanne und Tod. Nach den Lehren Gurdjieffs hat der Mensch Zugang zu diesen drei Grundkräften durch seine drei Intelligenz-Zentren: Bauch, Herz und Kopf. Das Verständnis von Intelligenz, was hier aufgefächert wird, besteht also aus einer Dreiheit von Zerstörungs – und Handlungskraft, fühlender Anwesenheit und Erkenntnisfähigkeit. Das Enneagramm beschreibt neun Archetypen, die ihre Wurzeln in diesen drei Grundkräften haben und als ihre natürliche Manifestation durch einen Menschen in Erscheinung treten können: Der Heilige, der Herrscher, die Mutter, der Magier, der Künstler, der Philosoph, der Held, der Narr, der Krieger.
Der Weg zurück zum Selbst
von Sandra Maitri
Nach ihren ursprünglichen Quellen enthüllt die beeindruckende Landkarte des Enneagramms die mannigfaltigen Ebenen der Realität in all ihren Facetten. Sandra Maitri, die bekannte Autorin von “Neun Porträts der Seele – Die spirituelle Dimension des Enneagramms” vertieft in diesem Buch das vielfältige Thema des Enneagramms. Hierin konzentriert sie sich erstmals umfassend und detailliert auf die Leidenschaften und entsprechenden Tugenden, die im Prozess der individuellen Entwicklung und Entfaltung auf natürliche Weise zu Tage treten.
Was bedeutet Fixierung in den Intelligenz-Zentren?
Was uns in der Natur auch natürlich erscheint – z.B. die Geburt eines Tieres, seine Lebenszeit und sein Tod; die Veränderung der Natur durch die Jahreszeiten; ein Vulkanausbruch, das Fließen von Wasser, die unberührte Weite des Himmels – all das wird in unserer Ich-Entwicklung belegt und verfremdet. Das Enneagramm besagt, dass jede Ich-Welt auf der Fixierung in einer dieser drei Grundkräften beruht, was einerseits nicht vermieden werden kann und gleichzeitig das Fundament unseres Leidens wird. Im Verlaufe unserer Kindheit verlassen wir den Zustand von unbewusster Einheit im Säuglingsalter und es kristallisiert sich in den frühen Jahren eine Identität heraus, die wir Ich nennen. Dieses Ich sieht die Psychologie als die notwendige Entwicklung, um überhaupt als soziales Wesen in dieser Welt bestehen zu können. Es braucht zuerst einmal das sogenannte „gesunde Ego“ als feste Struktur für unser Identität.
Das Enneagramm zeigt diesen Weg der Identitätsbildung differenzierter auf. Es spricht von einem sogenannten Urverlust in der Seele des Menschen, der durch die Entwicklung eines getrennten Ichs entsteht. Die neun Ich-Welten, die das Enneagramm benennt, werden als Kompensation dieses Urverlustes gesehen. Jede Fixierung geschieht in einer der drei Grundkräfte Zorn, Angst und unerfüllte Liebe und imitiert und kompensiert somit die natürliche Kraft, die im Prozess der Trennung „verloren“ gegangen ist.
So wird im Ich eines Menschen aus der natürlicher zerstörerisch-wandelnden Kraft durch die Fixierung im Bauch-Zentrum selbstgerechter Zorn und der elementare Antrieb, sich dem Leben machtvoll zu widersetzen. Aus schöpferischer, fühlender Kreativität wird durch die Fixierung im Herz-Zentrum eine maßlose Suche nach Mehr, nach Liebe, nach schönen Idealen – angetrieben von einem unerfüllbaren inneren Mangelzustand. Und aus einer feinen, intelligenten, bewahrenden Kraft wird durch die Fixierung im Mental-Zentrum chronische Angst, die in Misstrauen, Distanzierung, Feindseligkeit (bis zur Angststörung) und falschem Heldentum führt.
Charaktertypen? Charakterfixierung!
„Ein kurzer Rückblick auf Gurdjieff: Er lehrte, dass unser Verständnis des Enneagramms von dem geprägt wird, was wir selbst ihm entgegen bringen. Für sich betrachtet, ist das Enneagramm nichts als eine archetypische Landkarte. Die Art, wie wir diese Karte lesen, ist in jeder Hinsicht von unserer philosophischen oder spirituellen Orientierung abhängig.“*
Die Tiefe, die das Enneagramm an Information zur Verfügung stellt, hängt vom Bewusstsein des Nutzers ab. Oftmals wird es als eine reine Typenlehre verstanden, die die Eigenschaften neun verschiedener Persönlichkeitstypen beschreibt und sich somit an der Oberfläche der eigentlichen geistigen Wirkkräfte aufhält. Auf dieser Ebene geht es dann um die Frage von beruflichen und menschlichen Stärken oder Schwächen, um Beziehungen und Veränderungen ins Positive. Deshalb können auch Enneagramm-Tests, die im Internet angeboten werden, selten die Fixierung selbst bestimmen. Es braucht in den meisten Fällen einen Lehrer, der den Interessierten eben genau an die Punkte führt, die er bisher nicht sehen wollte.
Wer sich nur für die Blätter und Früchte interessiert, weiß nichts vom Stamm und den Wurzeln eines Baumes. Um die Wurzeln eines Baumes zu erkennen und damit die innere Kraft, die diesen Baum am Leben hält, ihn wachsen und sterben lässt, braucht es einen Blick „unter“ die Welt des Sichtbaren, also ins Unbewusste.
Die Erforschung der Charakterfixierung heißt, den Blick in die unbewussten Motive und Antriebe unserer Ich-Welt zu richten. Erst hier sprechen wir vom spirituellen Enneagramm, das für den Menschen interessant wird, der ahnt, dass die eigentliche Macht, die seine Handlungen, Gefühle und Gedanken bestimmt, aus seinem Unterbewussten wirkt. Das Enneagramm stellt für jede Fixierung sogenannte Schlüssel zur Verfügung, die diese unbewussten Antriebe aufzeigen und für Selbsterforschung zur Verfügung stellen. Diese tiefe Sicht führt in grundlegende Wandlungsprozesse ein und öffnet den Blick für das natürliche Zusammenspiel der drei Grundkräfte – in uns selbst.
Verweise im Text:
*aus „Neun Portraits der Seele“ von Sandra Maitri, j.kamphausen
Literaturempfehlungen zum Thema:
Sandra Maitri: Der Weg zurück zum Selbst
OM C. Parkin: Zorn
OM C. Parkin: Angst
OM C. Parkin: Unerfüllte Liebe